Es gibt kaum einen ausdrucksvolleren Beweis für die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des menschlichen Körpers als seine Fähigkeit, auch nach Entfernung eines Organs noch einwandfrei zu Funktionieren.
Jeder weiß, dass ein Mensch auch mit einem Auge überleben kann. Nicht ganz so selbstverständlich ist es, dass wir auch dann noch ganz gut zurechtkommen, wenn eines unserer anderen paarigen Organe entfernt wurde: Lunge, Niere oder Hoden. Aber auch Organe, die nur einmal vorhanden sind, können vollständig entfernt werden, zum Beispiel der Magen: Falls entsprechende chirurgische Eingriffe vorgenommen werden, kann der Patient auch mit dem Darm allein verdauen. Ebenso kann der Kehlkopf entfernt werden; der Patient muss dann lernen, durch Luftschlucken und Aufstoßen zu sprechen. Manche Organe, vor allem die Leber, bestehen aus mehreren „Einheiten“, von denen eine vollständig entfernt werden kann, ohne dass damit das ganze Organ oder der Patient gefährdet würde.
Warum werden Organe entfernt?
Der häufigste, aber nicht der einzige Grund für die Entfernung eines Organs ist, dass es krank ist, und zwar so sehr, dass es eine Gefahr für den übrigen Körper darstellt. Unfälle, vor allem Verkehrsunfälle, sind die Ursache für eine erhebliche Zahl von Organentfernungen: Milz- oder Nierenrisse, die zu gefährlichen inneren Blutungen führen können, sind typische Verletzungen von Unfallopfern. Glücklicherweise kann man auch ohne Milz oder mit nur einer Niere leben.
Erkrankte Organe
Auch auf den Wurmfortsatz des Blinddarms, bestimmte Mandeln und die Gallenblase können wir notfalls verzichten. Diese Organe sind nicht lebenswichtig, weil sie infolge der sich ändernden Lebens- und Eßgewohnheiten der Menschen im Laufe von Zehntausenden von Jahren ganz oder teilweise entbehrlich geworden sind oder weil ihre Funktion von anderen Organen übernommen werden kann. Trotz der Anpassungsfähigkeit des Körpers wird die operative Entfernung eines Organs nie ohne gründliche Abwägung des Für und Widers durchgeführt. Eine der wichtigsten Überlegungen vor der Entscheidung für eine Operation gilt der Frage, ob das Organ ganz oder teilweise entfernt werden soll. Wenn irgend möglich, entscheidet sich der Chirurg für die Entfernung nur des erkrankten Teils, und er wird alles daransetzen, soviel gesundes Gewebe wie möglich im Körper zu belassen. Die Schilddrüse ist ein Organ, das nur selten vollständig entfernt wird. Sie steuert unser Wachstum und unseren Stoffwechsel und kann aus verschiedenen Gründen überaktiv werden, was sich dann schädlich auswirken kann, beispielsweise aufs Herz. Ziel des Chirurgen ist es, so viel von der Drüse zu entfernen, dass ihre Hormonproduktion sich wieder normalisiert.
Zu überlegen ist auch, wie viel zusätzliche operative Arbeit erforderlich sein wird. Wird beispielsweise einem Patienten der Magen entfernt, so ist dies eine schwierigere Operation als die Entfernung des Blinddarms, da die Speiseröhre mit dem Darm verbunden werden muss. Jeder Chirurg wird eine Organverpflanzung zu vermeiden suchen, denn auch wenn eine Transplantation erfolgreich ist, so besteht doch immer das Risiko einer Abwehrreaktion des Körpers. Bei Lebererkrankungen ist eine Transplantation manchmal möglich, aber eine einfachere Operation wäre die Entfernung von Teilen des Organs, vorausgesetzt, das gesamte Organ ist noch nicht in Mitleidenschaft gezogen – beispielsweise von einer Krebserkrankung.
Nach der Operation
Die meisten Schwierigkeiten im Gefolge einer Organentfernung verschwinden, wenn der Körper sich auf den Verlust eingestellt hat. Patienten beispielsweise, denen ein Lungenlappen entfernt wurde, sind zunächst kurzatmig, gewinnen aber mit der Zeit fast ihre normale Atemkapazität wieder. Nach der Entfernung des Magens sind geringfügige Änderungen in der Ernährungsweise erforderlich. Wenn ein Organ mit Hormonsekretion wie die Schilddrüse vollständig entfernt wird, müssen andere Möglichkeiten zur Regelung des Hormonhaushalts gefunden werden. Das ist meist mit der Einnahme von Hormonpräparaten verbunden. Das größte Problem ist wahrscheinlich psychischer Art: Man muss sich daran gewöhnen, ohne das betreffende Organ zu leben. Der Arzt sollte dem Patienten erklären, dass eines der größten Wunder des menschlichen Körpers eben diese Fähigkeit ist, den Verlust eines Organs zu überstehen.