Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) hat Österreich im Vorjahr wegen der fortgesetzten Vormerkung von Verurteilungen nach dem homophoben Sonderstrafgesetz § 209 im Strafregister verurteilt. Der Oberste Gerichtshof weigert sich nun, diese Löschung herbeizuführen. Und auch die Politik bleibt untätig. Das Rechtskomitee LAMBDA, Österreich LGBT-Bürgerrechtsorganisation, zeigt sich bestürzt über die Missachtung des Menschenrechtsgerichtshofs.
§ 209 des Strafgesetzbuches war eines von vier homophoben Sonderstrafgesetzen, die 1971 als Ersatz für das abgeschaffte Totalverbot eingeführt worden waren. Die anderen drei kriminalisierten schwule Prostitution (§ 210), das öffentliche Gutheißen von Homosexualität (§ 220) sowie Vereinigungen zur Begünstigung von Homosexualität (§ 221). § 209 statuierte eine Sondermindestaltersgrenze von 18 Jahren für homosexuelle Kontakte zwischen Männern. Für Heterosexuelle und Lesben hingegen galt eine Mindestaltersgrenze von 14 Jahren.
2002 hat der Verfassungsgerichtshof § 209 endlich aufgehoben (VfGH 21.06.2002, G 6/02). Kurze Zeit später hat der Europäische Menschengerichtshof Verurteilungen nach § 209 als schwer menschenrechtswidrig erkannt (L. & V. v. Austria 2003). Seither gilt für alle sexuellen Kontakte eine Mindestaltersgrenze von 14 Jahren, gleich ob hetero oder homosexuell.
Auf die früheren § 209-Verurteilungen hatte das jedoch keine Auswirkungen. Diese Verurteilungen sind bis heute in Kraft und sie blieben sogar im österreichweiten Strafregister vorgemerkt. 2006 waren immer noch 1.500 Verurteilungen nach den Sonderstrafgesetzen und sogar noch nach dem alten Totalverbot im Strafregister vorgemerkt.
2006 noch 1.500 Vormerkungen
Erst 2006 hat Bundespräsident Heinz Fischer, auf Vorschlag der damaligen Justizministerin Mag. Karin Gastinger, einen großen Teil der § 209-Verurteilungen im Gnadenweg aus dem Strafregister löschen lassen. Gegen die Löschung aller Verurteilungen leisteten Teile der Beamtenschaft erfolgreich Widerstand. Wer in ihren Augen einer gnadenweisen Löschung der Verurteilung nicht würdig war, dessen § 209-Verurteilung blieb im Strafregister. Obwohl diese (ausschließlich auf Grund von § 209 erfolgten) Verurteilungen zweifellos schwer menschenrechtswidrig waren, gleich was diese § 209-Opfer sonst in ihrem Leben angestellt haben mochten.
Einige § 209-Opfer, denen die Löschung aus dem Strafregister verwehrt worden war, beschritten den Gerichtsweg. In Österreich fanden sie kein Gehör. Weder vor dem Verfassungsgerichtshof, noch vor dem Verwaltungsgerichtshof und auch nicht vor dem Obersten Gerichtshof.
Die Männer (zwei davon waren bereits 2003 und 2005 in Sachen § 209 vor dem EGMR siegreich) beantragten bei der für die Führung des Strafregisters zuständigen Innenministerin die Löschung ihrer Verurteilungen aus dem Strafregister. Begehrt haben sie damit ausdrücklich nicht die Aufhebung der Verurteilung oder deren Ausscheiden aus dem Rechtsbestand, sondern lediglich die Beendigung der weiteren Evidenthaltung der Verurteilung in einer österreich- und europaweit zugänglichen zentralen Datei.
Dennoch hat der Verfassungsgerichtshof die abweisende Entscheidung der Innenministerin mit der Begründung bestätigt, dass es „nicht Sache der Strafregisterbehörde sein (könne) zu entscheiden, ob und in welchem Umfang bestimmte Verurteilungen aus dem Rechtsbestand auszuscheiden sind“. Lediglich ein Gericht könne aussprechen, dass eine Gerichtsentscheidung die Grundrechte verletzt hat (VfGH 04.10.2006, B 742/06).
§ 209-Opfer erkämpften historisches Urteil und bleiben auf der Strecke
Die Verurteilten haben daraufhin beim Obersten Gerichtshof die Erneuerung ihrer Strafverfahren beantragt, weil der EGMR bereits mehrfach die Menschenrechtswidrigkeit des § 209 und der darauf gegründeten Verurteilungen festgestellt hat. Die Generalprokuratur ist dem entgegengetreten mit der Begründung, dass die betreffenden konkreten Verurteilungen nicht beim EGMR bekämpft worden sind. Der OGH hat diese Rechtsansicht der Generalprokuratur zurückgewiesen und den Verurteilten grundsätzlich Recht gegeben. In den bahnbrechenden Entscheidungen hat er – über den geltenden Gesetzestext hinaus – ausgesprochen, dass sich Opfer einer Grundrechtsverletzung im Bereich der Strafjustiz immer an den Obersten Gerichtshof wenden und ihr Verfahren erneuern lassen können; auch wenn sie keine Verurteilung Österreichs beim EGMR erwirkt haben, ja sogar dann, wenn es zu einer bestimmten Frage noch gar keine Judikatur des EGMR gibt (OGH 01.08.2007, 13 Os 135/06m, u.a.).
Die Opfer des § 209 haben damit eine historische Erweiterung des Rechtsschutzes für alle Opfer von Grundrechtsverletzungen erkämpft; und blieben dennoch auf der Strecke. Der OGH hat diesen neuen Rechtsschutz nämlich für alle Menschenrechtsverletzungen ausgeschlossen, die länger als 6 Monate zurückliegen.
Die § 209-Verurteilungen sind daher weiterhin als Vorstrafen im Strafregister eingetragen und stigmatisieren auf Jahre hinaus die Opfer der anti-homosexuellen Sonderstrafgesetzgebung. So hat bspw. das Oberlandesgericht Wien § 209 als zwar gleichheitswidrig aber moralisch einsehbar bezeichnet und die Verhängung einer höheren Freiheitsstrafe wegen Vorstrafen nach dem homophoben Sonderstrafgesetz für rechtens erklärt (03.05.2005, 19 Bs 117/05b) sowie die bedingte Entlassung eines Strafgefangenen unter Hinweis auf seine § 209-Vorstrafen abgelehnt (13.06.2006, 20 Bs 155/06z). Und auch der Oberste Gerichtshof hat entschieden, dass § 209-Vorstrafen bei Verurteilungen weiterhin als erschwerend zu berücksichtigen sind (OGH 22.03.2005, 12 Os 25/05a).
Österreichische Gerichte schicken die Opfer im Kreis
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat den Beschwerden der Männer im November 2013 recht gegeben und Österreich verurteilt, weil die Gleichsetzung von homophoben Verurteilungen mit Verurteilungen wegen wirklichen, menschenrechtskonformen Straftaten diskriminierend ist (E.B. v Austria, judg. 07.11.13, 31913/07 ua.). Das Urteil erging einstimmig.
Nach der Verurteilung haben die siegreichen Beschwerdeführer neuerlich beim Obersten Gerichtshof die Aufhebung ihrer Verurteilungen (und damit deren Löschung im Strafregister) beantragt. Der Oberste Gerichtshof lehnte das – trotz des EGMR-Urteils – ab, weil die Eintragung im Strafregister nur eine zwingende gesetzliche Folge einer Verurteilung ist (OGH 11.09.2014, 14 Os 47/14i). Da der Verfassungs- und der Verwaltungsgerichtshof wiederum auf den Obersten Gerichtshof verweisen (siehe oben), bleiben die Verurteilten – trotz des EGMR-Urteils – rechtlos und haben keinerlei Rechtsanspruch auf Löschung ihrer Eintragungen im Strafregister.
Und auch der Gesetzgeber bleibt untätig. Im Frühjahr wurde dem RKL aus dem Justizministerium eine entsprechende Gesetzesvorlage zugesagt. Von einer solchen ist bis heute weit und breit nichts zu sehen.
Insgesamt sind im Strafregister heute immer noch 211 Verurteilungen nach den homophoben Sonderstrafgesetzen vorgemerkt. 122 davon nach § 209 StGB (bzw. dessen Vorgänger § 129 I Strafgesetz StG 1852), 38 nach § 210 StGB (bzw. dessen Vorgänger § 500a StG) und noch immer 51 Verurteilungen nach dem alten (1971 beseitigten) Totalverbot (§ 129 I b StG) (Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage von RKL-Kuratoriumsmitglied Bundesrat Marco Schreuder durch Justizminister Dr. Wolfgang Brandstetter, 25.07.2014,2789/AB-BR/2014, http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/BR/AB-BR/AB-BR_02789/index.shtml).
“Es ist skandalös: obwohl die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs bindend sind ignoriert Österreich dieses Urteil des EGMR“, sagt der Wiener Rechtsanwalt Dr. Helmut Graupner, Präsident von Österreichs LGBTI-Bürgerrechtsorganisation Rechtskomitee LAMBDA und Vertreter der Beschwerdeführer, „Das Parlament muss unserer Republik die Blamage der weiterer Verurteilungen ersparen, und das seinerzeit erstmals von RKL-Kuratoriumsmitglied Mag.a Terezija Stoisits eingebrachte Amnestie-, Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetz (AREG) endlich verabschieden“.
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